Fahrradtraining für die Sekundarstufe I bzw. ab der 5. Klasse
Die Entwicklung der radfahrrelevanten Kompetenzen ist mit zehn Jahren noch nicht
abgeschlossen. Daher hat sich die DVW bereits 2019 für eine Weiterführung der Radfahrerziehung in der fünften und sechsten Klassenstufe ausgesprochen. Darauf aufbauend wurde in dem Pilotprojekt „Geschickt und sicher auf dem Rad!“ ein Fahrradtraining für die Sekundarstufe I bzw. ab der 5. Klasse in verschiedenen Schulen erfolgreich erprobt.
Darum sollte:
- das Fahrradtraining für die Sekundarstufe I in das Programm der DVW aufgenommen werden,
- die Jugendverkehrsschulen mit entsprechenden Lehrmitteln und Fahrrädern für die Klassenstufen fünf und sechs ausgestattet werden,
- das Fahrradtraining für die Sekundarstufe I in die Lehrpläne für die Klassenstufen fünf und sechs bzw. in die landesrechtlichen Richtlinien aufgenommen werden,
- eine entsprechende Fortbildung für Pädagog:innen entwickelt und angeboten werden,
- Schulbehörden und Versicherungsträger eine solche Fortbildung als Voraussetzung für die Durchführung eines solchen Fahrradtrainings anerkennen, um auch weiterem pädagogischen Personal (z.B. Erzieher:innen im Ganztag) einen niederschwelligen Zugang zu ermöglichen.
Problembeschreibung
Das Fahrrad ist ein wichtiges Verkehrsmittel für Kinder und Jugendliche beim Start in die selbstständige Mobilität und Teilhabe am Straßenverkehr. Schulwege werden häufig mit dem Fahrrad zurückgelegt. Kinder erhalten in der Grundschule im dritten und vierten Schuljahr eine Radfahrausbildung mit dem Ziel, Bewegungssicherheit beim Radfahren zu fördern, Verkehrswissen aufzubauen und regelkonformes Verhalten im Verkehr zu erlernen. Die Radfahrausbildung im dritten und vierten Schuljahr besteht aus einer theoretischen und einer fahrpraktischen Ausbildung in einem geschützten Raum (z.B. Jugendverkehrsschule, Schulgelände), welche durch die Radfahrprüfung abgeschlossen wird. Die Radfahrausbildung in der Grundschule ist im Lehrplan verankert und ein zentrales Element der schulischen Verkehrs- und Mobilitätserziehung.
Die Entwicklung der radfahrrelevanten Kompetenzen ist damit allerdings nicht abgeschlossen. Mit neun bis zehn Jahren verfügen Kinder zwar über die psychomotorischen Fähigkeiten für das Radfahren und - nach Abschluss der Radfahrausbildung - auch über entsprechendes Regelwissen. Mit dem Wechsel in die weiterführende Schule im Alter von 10 bis 12 Jahren erweitert sich der Radius und der Umfang der selbstständigen Teilnahme als Radfahrer:in am Straßenverkehr beträchtlich. Auch sind Kinder ab dem Alter von 10 Jahren verpflichtet, den Radweg oder die Straße zu benutzen.
Um die zusätzlichen Herausforderungen des Straßenverkehrs bewältigen zu können sind ein erweitertes Verständnis für kritische Verkehrssituationen, der Aufbau Sicherheit fördernder Routinen und Einsichten erforderlich. Dafür notwendige geistige, emotionale und soziale Fähigkeiten entwickeln sich mit den neuen Herausforderungen, sofern die Kinder und Jugendlichen eine geeignete Unterstützung erhalten.
Es ist fatal, dass gerade an der biografisch für die Autonomieentwicklung der Kinder so wichtigen Schnittstelle bislang die Radfahrausbildung nicht fortgesetzt wird. Die Folgen spiegeln sich in den Unfallzahlen.
Im Jahr 2020 waren 57 % der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 10 und 14 Jahren, die bei einem Straßenverkehrsunfall verunglückten, zum Zeitpunkt des Unfalls mit dem Fahrrad unterwegs. Diese Zahlen verdeutlichen, wie wichtig es ist, auf den Grundlagen der Radfahrausbildung in der Grundschule aufzubauen und das Fahrradtraining auch in der Sekundarstufe I unter dem Fokus der wachsenden Selbstständigkeit und Selbstverantwortung der Kinder und Jugendlichen im Straßenverkehr fortzuführen. Ziel sollte neben der Vermittlung weiterer Kenntnisse u.a. die Stärkung einer realistischen Selbst- und Fremdeinschätzung sein.
Stand der Wissenschaft
Geistige Fähigkeiten von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren
Die Vielzahl von geistigen Fähigkeiten, die Menschen planvoll und zielorientiert handeln lassen, wird unter dem Begriff exekutive Funktionen zusammengefasst. Exekutive Funktionen sind ein Sammelbegriff für verschiedene geistige Prozesse sowie Regulations- und Kontrollvorgänge (Walk & Evers, 2013). Hierzu zählen u.a. die Fähigkeit, impulsive Reaktionen zu hemmen, den Aufmerksamkeitsfokus flexibel zu wechseln und Handlungsschritte zu planen. Zudem unterstützen sie die Emotionsregulierung. Exekutive Funktionen sind besonders wichtig in komplexen Situationen, wie sie im Straßenverkehr häufig vorkommen.
Und sie sind in der mittleren Kindheit und frühen Jugend bei weitem noch nicht so weit ausgebildet, dass es 10-14-Jährigen leichtfällt, die erweiterte Teilnahme am Straßenverkehr zu bewältigen. Auch sind die einzelnen Komponenten der exekutiven Funktionen bei gleichaltrigen Kindern unterschiedlich gut ausgebildet (Walk & Evers, 2013).
So fällt es Dritt- und Viertklässlern in der Regel noch schwer, vorauszusagen, wie sich Verkehrssituationen verändern werden. Die Integration von Komponenten zur allumfassenden Gefahrenbewertung ist noch nicht möglich (Kröling, Schlag, Richter & Gehlert, 2021).
Allmählich (etwa ab dem 10. Lebensjahr) können Kinder lernen ihre vollständige Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr zu richten und z.B. in Realsituationen und unter Handlungsdruck sichere von gefährlichen Querungen unterscheiden. Es ist ihnen dann möglich, zwei Perspektiven im Straßenverkehr zu koordinieren. Erst mit etwa 12 bis 14 Jahren können sie die Aufmerksamkeit im Straßenverkehr schnell zwischen verschiedenen Objekten wechseln. Soziale Interaktionen oder Handynutzung können leicht zu Ablenkungen führen (Kröling et al., 2021).
Soziale und emotionale Fähigkeiten von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren
Um selbstständig am Straßenverkehr teilzunehmen, müssen Kinder sich in andere Verkehrsteilnehmer:innen hineinversetzen und deren Verhalten abschätzen können. Das gilt für alle Verkehrssituationen mit mehreren Beteiligten.
Die emotionale Entwicklung der Kinder trägt dazu bei, dass ihr Verhalten reflektierter, weniger impulsiv und sicherheitsbewusster wird. Sie können lernen, sich im Straßenverkehr in andere Verkehrsteilnehmende hineinzuversetzen, deren Handlungsabsichten einzuschätzen und für ihr eigenes Handeln zu berücksichtigen. Strategien zur Emotionsregulation ermöglichen z.B. Zurückhaltung, obwohl man im Recht wäre. Mit den erweiterten Möglichkeiten der 12- bis 14- Jährigen steigt ihre Risikobereitschaft (Kröling et al., 2021), was sich u.a. in riskanten Fahrmanövern, einer Ablehnung des Fahrradhelms oder einer Missachtung von Verkehrsregeln äußern kann (Funk, 2009).
Motorische Fähigkeiten von Kindern zwischen 10 und 14 Jahren
Bereits in der Radfahrausbildung in der Grundschule zeigen sich motorische Defizite bei Kindern und Jugendlichen (Günther & Kraft, 2015). Verkehrserzieher:innen von Polizei und Schulen gaben an, dass die Anzahl der Kinder, die bei der Radfahrausbildung durch motorische Schwierigkeiten auffallen, ansteigt (Günther & Degener, 2009). Dies wird u.a. für Stadtkinder, Mädchen mit Migrationshintergrund, Kinder, die kein Fahrrad besitzen, beschrieben. Kinder mit motorischen Fertigkeitsschwächen fehlt z.B. die Fähigkeit der sicheren Spureinhaltung beim Blicken zur Seite oder nach hinten, vor allem in Kombination mit beabsichtigten Richtungsänderungen und deren Anzeige.
Bausteine für das praktische Radfahrtraining in der Sekundarstufe I
Erste Bausteine für ein praktisches Radfahrtraining in den Klassen 5 und 6 hat die Unfallforschung der Versicherer (UDV) entwickelt und gemeinsam mit der Deutschen Verkehrswacht (DVW) erprobt und evaluiert. Es baut auf die Radfahrausbildung in der Grundschule auf und führt diese konsequent fort.
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Fahrradtraining für die Sekundarstufe I bzw. ab der 5. Klasse
Mainz,
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